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Ruhestörung: Wenn Weinen wichtiger ist als Schimpfen
„Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“ (Theodor W. Adorno) Wenn man sich gegenwärtig in der Welt umsieht, kann man an das alte biblische Konzept der „Verstockung“ denken. Vielleicht muss man sogar. Verstockung, das heißt: Jemand erzwingt den eigenen Untergang. Es fehlt nicht an Warnungen, aber sie kommen nicht an. Die Möglichkeit eines Kurswechsels war da, aber sie wurde nicht genutzt. Der Pharao aus der Exodustradition wird so veränderungsresistent beschrieben. Die Könige von Israel und Juda, deren Reiche den Assyern und Babyloniern in die Hände fallen. Paulus bezieht den Begriff dann auf sein eigenes jüdisches Volk, das den prophetischen Ruf Jesu von Nazareth zur Umkehr ignoriert. Kurz…
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Krisen und Katastrophen: Was wir fürchten müssen, was wir hoffen dürfen
„Am Ende eines Feuerlöschschlauchs werden Sie keine Klimaskeptiker mehr finden.“ Feuerwehrmann aus Perth/Australien bei den Buschbränden im Jahr 2012 Es ist schon lange her: Greta Thunberg hatte mit ihrer energischen „How dare you“-Rede vor den Vereinten Nationen im September 2019 ordentlich Staub aufgewirbelt. Unter den vielen Reaktionen fand sich auch ein US-Geistlicher, der zu Donald Trumps Umfeld gehört, Robert Jefress: Er gab im Fernsehen zu Protokoll, Greta solle sich doch einen Regenbogen anschauen, wenn sie sich Sorgen wegen des Klimas macht. Das Wetterphänomen beweise schließlich, dass Gott die Katastrophe schon noch verhindern werde. Von Australiens damaligem Ministerpräsident Scott Morrison wird berichtet, er bete als Mitglied einer Pfingstkirche lieber für Regen…
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Der andere Anfang: Warum die Welt nicht bleiben muss, wie sie ist
Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll. (Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799, deutscher Physiker) Mächte und Gewalten erwecken – damals wie heute – stets den Eindruck, sie seien schon immer dagewesen; ein unverrückbarer Teil unserer Wirklichkeit, also auch gar nicht wegzudenken aus der Welt. Israel hingegen war zu der Überzeugung gelangt, dass die räuberischen Imperien eher Parasiten gleichen. Sie leben davon, dass Menschen sich blenden und dazu verführen lassen, ihnen Gefolgschaft zu leisten und Lebenskraft zu opfern. Mit dem wahren, einen Gott des Friedens und der Gerechtigkeit konnten sie…
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Gefährliche Erinnerungen: Das Exodus-Muster
Die Verfasser des Danielbuchs hatten eine Art Sehhilfe für ihre bemerkenswerte Analyse der damaligen Weltpolitik: Die jüdischen Schriften frühere Generationen. In den Geschichten, die Israel über Gott und die Welt erzählte, taucht das Thema Macht, Unterdrückung und Freiheit in ständig neuen Formen auf. Und anders als in den religiösen Schriften der Nachbarvölker tauchte Gott in diesen Geschichten zuverlässig auf der Seite der Underdogs auf. Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Bestseller „Homo Deus“ das, was wir hier „Mächte“ nennen, als etwas, das zwischen objektiven Gegenständen und subjektiven Bewusstseinszuständen angesiedelt ist, also weder der Welt der Dinge angehört noch der Welt der bewussten Wesen: Konzepte, Symbole, Sprache, Institutionen, Weltbilder, Geschichten…
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Umzingelt von Monstern: Warum sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen
„Selbst der Kleinste vermag den Lauf des Schicksals zu verändern.“ (J.R.R. Tolkien) Irgendwann kam das antike Judentum an einen Punkt, an dem es die Großmächte, denen es ausgeliefert war, nur noch als Monster beschreiben konnte: Sie wüteten nicht nur auf den Schlachtfeldern der alten Welt, sondern wollten auch das religiöse Leben der unterworfenen Völker dominieren. Es war die Geburtsstunde der sogenannten „Apokalyptik“: Einer surrealen Beschreibung der Gegenwart, die traumatische Erfahrungen in grelle, drastische Bilder umsetzt. Die Schriftgelehrten blickten zurück in die Geschichte und erkannten dort eine Abfolge immer brutalerer Reiche, die dem Frieden, der Befreiung Israels und der Heilung der Welt entgegenstanden. Im Kapitel 7 des Danielbuches erscheinen Assyrer, Babylonier,…
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Unkraut vergeht nicht: Über dieses Projekt
In seinem Buch Karte der Wildnis erzählt der britische Schriftsteller Robert Macfarlane immer wieder von seinem Freund Roger Deakin, durch den er viel lernt über Welt, Wald und Wildnis. Der schrieb über sich selbst in sein Tagebuch: „Ich möchte, dass alle meine Freunde wie Unkraut sprießen, und ich möchte selbst wie Unkraut sein, wild und unaufhaltsam.“ Die beiden Adjektive sind bei mir sofort gedanklich eingerastet. Ich spürte, dass damit kurz und treffend charakterisiert ist, was mich seit vielen Monaten nun schon umtreibt. Eine Weile musste ich noch überlegen, ob statt „unaufhaltsam“ nicht „unbeugsam“ das bessere Attribut wäre. Aber dann blieb ich dabei – auch weil ich in Menschen wie Deakin und Macfarlane…