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Gerechtigkeit: Gottes Reich vs. die grausame Gesellschaft

Der Schriftsteller David Foster Wallace hielt 2005 eine berühmt gewordene Rede für die Absolventen des Kenyon College. Er beschreibt das Problem der fraglosen Selbstverständlichkeit des individualistischen Lebensstils und der Unterwerfung unter die Imperiale Lebensweise. Und er kommt – auch das ist wichtig – nicht umhin, das in religiöser Sprache zu tun:

„In den Niederungen des Erwachsenenalltags gibt es keinen Atheismus. Man kann nicht nichts anbeten – jeder betet etwas an. […] Wenn ihr Geld und Güter anbetet – wenn ihr daraus den wahren Sinn des Lebens bezieht –, dann werdet ihr davon nie genug haben, nie das Gefühl haben, dass es reicht. Das ist die Wahrheit.“

Foster Wallace spielt diesen Gedanken jeweils noch einmal mit Schönheit, Macht und Intellekt durch, dann fährt er fort:

„Wisst ihr, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind. Sie sind Standardeinstellungen. Sie sind Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert, jeden Tag ein bisschen mehr; […] die sogenannte »wirkliche Welt« der Männer, des Geldes und der Macht läuft wie geschmiert dank dem Öl aus Angst, Verachtung, Frustration, Gier und Selbstverherrlichung. Unsere heutige Kultur hat sich diese Kräfte auf eine Art und Weise nutzbar gemacht, die außerordentlichen Reichtum, Komfort und individuelle Freiheit hervorgebracht hat. Nämlich die Freiheit für jeden von uns, Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreichs zu sein, allein im Mittelpunkt der Schöpfung.“

Jesu Gegenmodell zu dem destruktiven Königreich, von dem Foster Wallace spricht, ist das Reich Gottes. Um zu verstehen, was es mit diesem Begriff auf sich hat und warum er für Jesus eine solche zentrale Rolle spielt, müssen wir noch einmal kurz zurückblättern ins Danielbuch, zu den Monstern. In einer anderen Traumsequenz erscheinen die Weltreiche nicht als Tiere, sondern in Form eines überdimensionalen Standbildes. Der namenlose Gottkönig, den es abbilden soll, besteht aus unterschiedlich wertvollen Metallen: Sein Kopf ist aus Gold, der Oberkörper aus Silber, die Hüften aus Bronze, die Beine aus Eisen, das sich an den Füßen mit Ton vermischt. Trotz ihrer monumentalen Dimensionen ist diese Macht im Grunde äußerst labil und anfällig. Und tatsächlich löst sich nun ohne menschliches Zutun von einem Berg ein Felsbrocken, rollt ins Tal hinab und trifft die tönernen Füße des Kolosses. Der sinkt in sich zusammen und zerfällt vollständig zu Staub, der vom Wind verweht wird. Hatte es doch schon in Jesaja 41,29 geheißen: „Seht her: Sie alle sind nichts, ihr Tun ist ein Nichts; windig und wesenlos sind die Bilder der Götter.“ Hinter den Naturereignissen – dem Stein, der die Statue von ihren brüchigen, tönernen Füßen schießt, und dem Wind, der ihren Staub davonträgt – steht Gott selbst: 

„Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen“ (Daniel 2,44).

Das ist eine ziemlich unverblümte Kampfansage an alle Mächte, die Menschen zu Objekten machen, auspressen und versklaven. Bei aller Vielstimmigkeit der hebräischen Bibel lässt sich so etwas wie ein „roter Faden“ erkennen, der sich durch die unterschiedlichen Zeiten und Texte zieht. Es ist die Frage nach der Gerechtigkeit, oft auch der Streit und das Ringen darum, was Gerechtigkeit in der jeweiligen Situation bedeutet, die Bitte und die Klage angesichts ihres Fehlens – aber eben nie der Verzicht auf sie oder die Abkehr von der Suche nach ihr. Dabei wird immer deutlicher, dass Gott nicht auf der Seite derer zu finden ist, die mit der Welt zufrieden sind und möchten, dass alles beim Alten bleibt. Der Gott, den die Mythen dieser Menschen beschreiben, ist erhaben und leidenschaftslos. Er nimmt um der herrschenden Ordnung willen menschliches Leid in Kauf und schreitet höchstens dann ein, wenn jemand aus der sakrosankten Tradition ausbricht. Im Gegensatz dazu hoffen die Propheten auf den Gott, der sich in die konkreten Lebensverhältnisse des Volkes einmischt. Weil er dessen Klage gehört hat, seine Sehnsucht kennt und sein Recht auf ein menschenwürdiges Leben bejaht. Ein Gott, der die verlogene Ruhe und Ordnung stört und zeigt, dass die Verhältnisse sich ändern lassen. Der scheinbar willkürlich aus dem Nichts auftaucht, aber stets zuverlässig an der Seite der Schwachen und Benachteiligten.

Herrschaftsfreie Ordnung

Die ersten drei Evangelien machen deutlich, dass sich das öffentliche Wirken Jesu um die Verkündigung der Herrschaft Gottes dreht. Ihr Anbruch ist Thema seiner ersten Predigt, sie erscheint in seinen Gleichnissen, sie bestimmt, wie er betet („Dein Reich komme“). Und sie ist der Schlüsselbegriff für die Bergpredigt, der Charta des erneuerten Bundes, in der Jesus das Leben unter der befreienden Herrschaft Gottes neu beschreibt und definiert. Sie ist auch der Horizont, auf den hin Jesus die unterschiedlichsten Menschen in seine Nachfolge beruft. 

Nun lässt sich der Ausdruck „Reich“ oder „Herrschaft“ autoritär oder territorial missverstehen. Als könnte man es irgendwo erbauen und auf einer Weltkarte einzeichnen. Walter Wink hat daher angeregt, sachgemäßer von „Gottes herrschaftsfreier Ordnung“ zu reden: Einer Lebensweise, die mitten in dieser Welt beginnt und nicht nur einzelne Menschen verändert, auch nicht nur die religiösen Verhältnisse, sondern das soziale und politische Leben gleich mit.

Jesus hat von dieser neuen Ordnung in der Öffentlichkeit häufig in einer Form gesprochen, die für unsere Verhältnisse ziemlich indirekt wirkt. Er hatte es in der Regel mit Menschen zu tun, die aus Furcht vor der Reaktion der Mächtigen ihre Unzufriedenheit und Wut maskierten und verbargen, so gut es ging. Die Regierenden konnten sich damals wie heute so darstellen, wie sie selbst gern gesehen werden wollten – als Überlegene, als Wohltäter, als Gottesfürchtige und Lichtgestalten. Eine Gegenöffentlichkeit gab es kaum. Daher finden wir in den schriftlichen Quellen aus dieser Zeit auch nur wenige Hinweise auf Kritik und Ressentiments, Widerstand flackert nur sporadisch auf. Waren die Armen jedoch unter sich, in der Familie oder der Dorfgemeinschaft, dann konnte die Sehnsucht nach einem Ende der Unterdrückung deutlicher werden. Jesus stellt daher sicher, dass seine Boten in den Dörfern aufgenommen wurden. In dieser überschaubaren Umgebung war ein offenes Wort dann möglich (vgl. Lukas 10).

Wie die Propheten vor ihm stellt auch Jesus die Frage nach Gerechtigkeit ins Zentrum dessen, was er zu Gottes neuer Weltordnung zu sagen hat. Das ist weit mehr als jene moralische Rechtschaffenheit im bürgerlichen Sinn, die im westlichen Christentum lange das selbstverständliche Ziel aller Religion war. Dietrich Bonhoeffer, der vor 70 Jahren ermordet wurde, hat dieses verengte Verständnis von Gerechtigkeit vehement kritisiert: „Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser und jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Er stiehlt nicht, er mordet nicht, er bricht nicht die Ehe, er tut nach Kräften Gutes. Aber […] er [muss] seine Augen und Ohren verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. Nur auf Kosten eines Selbstbetrugs kann er seine private Untadeligkeit vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln in der Welt reinerhalten.“

Bessere Gerechtigkeit

Sich reinhalten, indem man sich raushält, damit hatte Jesu Vorstellung von Gerechtigkeit trotz der leisen Töne wenig zu tun. Jesus forderte vielmehr eine „bessere Gerechtigkeit“ als die der Pharisäer, die in die religiös-rituelle Absonderung führte. Er spricht denen Gottes Segen und Wohlwollen zu, die nach Gerechtigkeit dürsten und um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Diese bessere Gerechtigkeit gipfelt schließlich in der Aufforderung, selbst die Feinde noch zu lieben. Damit geht Jesus über alles hinaus, was vor ihm gelehrt wurde – und das nicht nur in der Theorie. Er rüttelt damit an den Grundfesten einer Gesellschaftsordnung, die dadurch zusammengehalten wird, dass Bedrohung durch äußere und innere Feinde permanent beschworen wird. So wird die Gewalt gerechtfertigt, die im Namen dieser Ordnung verübt wird. Sie beruht auf einer Ordnung, die vor allem auf Strafe, Vergeltung, Ausgrenzung und Abschreckung setzt.

Jesus war sich darüber im Klaren, dass ihn sein Weg des Widerstands ins Leiden und ans Kreuz führen würde, und dass seine Nachfolger sich auf ähnliche Situationen einstellen mussten. Sein Verzicht auf Zwang war auch ein Verzicht auf Gewalt. Allerdings war weder das eine noch das andere eine Kapitulation vor jener Gewalt, der die Menschen damals ausgesetzt waren. Er lebte ihnen einen dritten Weg vor, der weder aus Vergeltung noch aus Unterwerfung bestand. Das entsprach der Situation der Menschen, in der eine gewaltsame Reaktion auf erlittenes Unrecht glatter Selbstmord gewesen wäre, und jedes Kuschen vor der Gewalt den Verlust aller Selbstachtung nach sich gezogen hätte. Den Unterdrückern durfte es nicht gelingen, den Menschen auch noch die Art ihres Widerstands zu diktieren.

Gewaltfreier Widerstand, wie Jesus ihn hier lehrt und vorlebt, ist keine subtile Form der Rache und keine bloße Taktik der Machtergreifung. Er ist auch kein Trick, mit dem sich Konflikte und persönliche Opfer vermeiden lassen. Vielmehr geht es um eine Art der Konfrontation, die das Potenzial hat, das Verhältnis von Unterdrückern und Unterlegenen grundlegend zu verändern. Als die Proteste gegen Rassendiskriminierung im Süden der USA vor 50 Jahren in Selma/Alabama auf einen Höhepunkt zusteuerten, war es Martin Luther King Jr., der die Aktivisten im Blick auf Polizei und weiße Bevölkerung aufforderte „Liebt sie auf Teufel komm raus!“. Und die Tochter des großen jüdischen Gelehrten Abraham J. Heschel, der in Selma mit King und anderen protestierte, erinnert sich an die biblischen Motive, mit denen ihr Vater seinen Widerstand beschrieb. Wir haben sie schon kennengelernt: 

„Aus Selma hinaus zu marschieren fühlte sich an wie ein Nachspielen des Exodus, aber auf neue Weise. Es zogen nicht nur die Israeliten aus Ägypten aus, sondern auch die Ägypter, weil die Hoffnung bestand, dass sich das weiße Amerika von seinem Rassismus abwenden könnte. Mein Vater hatte geschrieben: »Die Tragödie des Pharao war, dass er nicht erkannte: der Exodus aus der Sklaverei hätte für Israel wie Ägypten Erlösung bedeuten können.«“

Der Verzicht auf Gewalt setzt innere Stärke voraus – und Realismus im Blick auf ein wesentliches „Gesetz“ menschlicher Erfahrung: Der Kampf gegen das Böse kann böse machen. Schon C.G. Jung wusste, dass man nur allzu leicht zu dem wird, was man am stärksten bekämpft. Jesu dritter Weg zeigt aber, wie Heschel erkannt hatte, selbst dem Unterdrücker noch einen Ausweg aus der Gefangenschaft – denn um nichts weniger handelt es sich hier. Er wird damit nicht aus der Verantwortung für sein unmenschliches Tun genommen, aber er bekommt die Möglichkeit, sein Verhalten zu ändern. Und damit wird er frei vom Zwang, seine Grausamkeiten schönzureden oder weiterzumachen, weil es zum Aufhören schon zu spät ist.

Der Schriftsteller George Orwell hat die Unfreiheit des Mächtigen in seiner Kurzgeschichte „Einen Elefanten erschießen“ sehr anschaulich beschrieben. Als Kolonialoffizier in Burma wurde er gerufen, als ein Elefant wild wurde und einen Menschen tötete. Als er ankam, war das Tier wieder friedlich. Etwa 2.000 Einheimische warteten darauf, was nun geschehen würde. Und Orwell, der den Elefanten lieber verschont hätte, spürte die Erwartung der Zuschauer, dass er von seiner Macht zu töten Gebrauch machte:

„Während ich mit meinem Gewehr in der Hand dastand, begriff ich erstmals die Hohlheit und Vergeblichkeit der Herrschaft des weißen Mannes im Osten. Hier stand ich, ein Weißer mit seinem Gewehr vor einer unbewaffneten Menge Einheimischer – scheinbar der Hauptdarsteller in diesem Stück; aber in Wirklichkeit war ich nur eine absurde Marionette, die vom Willen jener gelben Gesichter hinter mir hin und her geschoben wurde. Ich erkannte in diesem Augenblick, dass der weiße Mann seine eigene Freiheit zerstört, wenn er sich in einen Tyrannen verwandelt. Er wird eine Art hohler, angeberischer Strohmann, die stilisierte Figur eines Sahib. Denn die Bedingung seiner Herrschaft ist es, dass er sein Leben in dem Versuch zubringt, die »Eingeborenen« zu beeindrucken, daher muss er in jeder Krise auch das tun, was die »Eingeborenen« von ihm erwarten. Er trägt eine Maske, und sein Gesicht nimmt ihre Form an.“

Die herrschaftsfreie Ordnung ist das Motiv, das sich durch Jesu gesamtes Leben und öffentliches Wirken zieht, bis zu den wachsenden Spannungen, die schließlich seinen Tod herbeiführen. Es spiegelt sich wider im Widerstand gegen Unterdrückung, im ungewöhnlich unbefangenen Umgang mit Frauen, in der Hinwendung zu den Armen, besonders auch den Kranken und „Besessenen“, im  Engagement für Versöhnung, in der Gewaltfreiheit und der Liebe zu den Feinden. Und so führt Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft dazu, dass sich der Konflikt mit den Mächtigen immer weiter zuspitzt. Sein Tod am Kreuz ist kein Unfall, sondern die Konsequenz seines Lebens und seiner Botschaft. Theodore Jennings folgert:

„Es hat also den Anschein, dass Jesus zu der Ansicht kam, eine Strategie der Konfrontation, die im Martyrium endet, sei Gottes Weg, seine Herrschaft in dieser Welt aufzurichten. Daher wird das Schicksal, das die Propheten und Johannes ereilte, in ein Grundmuster übersetzt, das man dem Hereinbrechen der Herrschaft Gottes zuschreiben kann. Jesus scheint diese Strategie bewusst zu verfolgen. Sie ist nicht etwas, das aus heiterem Himmel kommt, sondern etwas, das bewusst provoziert werden muss, damit sich die Macht des Imperiums gegen sich selbst wendet. Und schließlich trainiert Jesus seine Lehrlinge, genau dieselbe Strategie so anzuwenden, dass sie sich über den Tod Jesu hinaus fortsetzt, oder den Tod anderer Anführer der Bewegung.“ (Jennings, Atonement, 45)

Die ersten Christen machten sich keine Illusionen darüber, dass sie es mit einem Imperium zu tun hatten, das jederzeit über Leichen gehen würde, wenn der Machterhalt es erfordert. Sichtbares Zeichen dafür war das Kreuz Christi und der gewaltsame Tod etlicher seiner Nachfolger. 

In den Briefen des Neuen Testaments ist an verschiedenen Stellen von „Mächten und Gewalten“ die Rede. Was bei Jesus eher zwischen den Zeilen zu suchen ist, weil seine Auseinandersetzung mit den „Mächten“ sehr konkret verlief, wird hier explizit zum Thema – ganz ohne die plakativen Drachen und Monster aus den apokalyptischen Passagen der Bibel. Für uns heute sind sie ein wichtiger Schlüssel, um zu erfassen, wie der Glaube und die Veränderung einzelner mit der Veränderung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Verhältnisse zusammenhängt. Und warum sich das eine nicht gegen das andere ausspielen lässt.

Und doch verkündigen wir Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht Weisheit dieser Welt oder der Machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkündigen wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. (1Kor 2,6-8)

Paulus beschreibt den Tod Christi als eine Konfrontation Gottes mit den Mächten der Welt, die zur Entmachtung derselben führen wird. Freilich ist davon noch wenig zu sehen, denn sofern man die Dinge mit der Logik des Herrschaftssystems betrachtet, ist Jesus gescheitert, der Kaiser und seine Verbündeten haben gewonnen. Aber es ist nicht einfach nur die Blindheit der konkreten Individuen, die in Staat und Gesellschaft einflussreiche Posten haben, sondern die Blindheit für Vorgänge, die aus dem Rahmen der eigenen Erwartungen fallen, über die die Machtstrukturen irgendwann stolpern und straucheln. Nicht nur die Privatmenschen Kaiphas, Herodes und Pilatus haben verkannt, wen sie da verurteilen, sondern auch der Apparat, für den sie stehen: die jüdische Aristokratie, der römische Sicherheitsapparat, die religiösen Führer. Gottes Weisheit und Herrlichkeit verbirgt sich in der Unscheinbarkeit des galiläischen Wanderpredigers, der zweifelhafte Gestalten um sich sammelt. Doch ausgerechnet so tritt jene Wende in der Weltgeschichte ein, die das Magnificat schon vorweg besingt und die sein Tod besiegelt.

Gottes unerschöpfliche Anteilnahme

Wenn sich Jesus als Repräsentant Gottes in Mitleidenschaft ziehen lässt, statt andere in Mitleidenschaft zu ziehen, dann setzt er dem Unheil, das sich in der Welt anhäuft und immer wieder neues Unheil, Leiden, Schuld und Gewalt in die Welt setzt, Gottes unerschöpfliche Anteilnahme entgegen. Sie reicht auch in den letzten Winkel der Verzweiflung und Gottverlassenheit hinein und befreit Christen von der Notwendigkeit, sich gegen das Leid in der Welt zu immunisieren und vor ihm zu flüchten. Das Leid ist noch da, aber man kann ihm ins Auge sehen, ohne zu verzweifeln.

Insofern steht das Kreuz auch für das Gericht Gottes über die Mächte, die aus der ihnen zugedachten Rolle fallen, eine heilsame Ordnung zu fördern und zu schützen. Indem sie den Gesandten Gottes verurteilen und grausam töten, sprechen sie sich selbst das Urteil. Sie offenbaren ihre Überheblichkeit, und darin ihre Feindschaft gegen Gott und das Leben. Anselm Grün hat diesen Zusammenhang erfasst, wenn er schreibt:

„Das Kreuz Jesu erinnert uns an all die Kreuze, die in der Welt immer wieder aufgerichtet werden. Es will die Leidunempfindlichkeit unserer Gesellschaft empfindlich stören. Diese Leidunempfindlichkeit ist wie ein Dämon, der sich auf das menschliche Denken legt und es trübt. Es verschließt uns die Augen vor dem Leid des Mitmenschen. Doch eine leidunempfindliche Gesellschaft ist eine grausame Gesellschaft.“

In einer grausamen Gesellschaft den Mächten und Gewalten zu widerstehen, ist auch heute nichts für Angsthasen. Bruno Latour machte 2018 in seinem „Terrestrischen Manifest“ darauf aufmerksam, dass weltweit immer mehr Umwelt- und Klimaaktivisten Opfer von Mord und Gewalt werden. Ein Beispiel von vielen: Anfang November 2019 wurde Paulo Paulino, Mitglied der Gruppe „Wächter des Waldes“ und einer der prominentesten Waldschützer im Amazonasgebiet, von illegalen Holzfällern erschossen. Die Menschenrechtsorganisation „Survival International“ berichtete, mindestens fünf bewaffnete Männer hätten ihn umzingelt und sofort das Feuer eröffnet. Fünf Jahre später hat sich wenig geändert. In den Kulturkämpfen dieses Jahrzehnts wird auch bei uns in Deutschland aus dem rechten Spektrum und bis weit in die „Mitte der Gesellschaft“ hinein gegen alles, was irgendwie „grün“ erscheint, mit allen Mitteln Stimmung gemacht.

Der grausamen Gesellschaft und ihren Herrschern kann die Christenheit manchmal nur wenig äußere Macht entgegensetzen. Aber wir können mit Eliza Gilkyson vom Frieden im Herzen singen, mit dem wir allem hasserfüllten Denken trotzen können.

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