Unkraut vergeht nicht: Über dieses Projekt
In seinem Buch Karte der Wildnis erzählt der britische Schriftsteller Robert Macfarlane immer wieder von seinem Freund Roger Deakin, durch den er viel lernt über Welt, Wald und Wildnis. Der schrieb über sich selbst in sein Tagebuch:
„Ich möchte, dass alle meine Freunde wie Unkraut sprießen, und ich möchte selbst wie Unkraut sein, wild und unaufhaltsam.“
Die beiden Adjektive sind bei mir sofort gedanklich eingerastet. Ich spürte, dass damit kurz und treffend charakterisiert ist, was mich seit vielen Monaten nun schon umtreibt. Eine Weile musste ich noch überlegen, ob statt „unaufhaltsam“ nicht „unbeugsam“ das bessere Attribut wäre. Aber dann blieb ich dabei – auch weil ich in Menschen wie Deakin und Macfarlane wichtige Verbündete und inspirierende Vorbilder sehe.
Warum „wild“?
Roger Deakin hat seinem Freund Rob dabei geholfen, das Wilde nicht nur fernab jeglicher Zivilisation zu entdecken. Es gibt im Anthropozän einfach keine gänzlich unberührte Natur mehr. Die Trauer über das, was schon unwiederbringlich verloren ist, und das Staunen über unerwartete Resilienz vieler Spezies auf der anderen Seite gehören zusammen. Mir scheint, das ist eine wichtige Anforderung an christliche Spiritualität im 21. Jahrhundert, dass sie beide Aspekte im Blick hat und behält. So wie auch Rob MacFarlane die traumatische Geschichte der Landstriche nicht verschweigt, in denen er heutige Wildnis entdeckt. Sie sind Sehnsuchtsort und Mahnmal zugleich.
Ich musste auch an Luzia Sutter-Rehmanns Beobachtungen zum Begriff „Wüste“ im Markusevangelium denken, der die Verwüstung durch die römischen Legionen in Judäa und Samaria thematisiert. Mitten im traumatisierten Land tauft Johannes am Jordan, bereitet sich Jesus auf sein öffentliches Wirken vor: Auf Protest, Konfrontation, aber eben auch auf die verwegene Ansage, dass Gott dort aufkreuzt, wo sich Menschen der Gewalt so schutzlos ausgeliefert sehen. Und dass eine neue Welt wie Kraut von der Erde aufwächst – wild und unaufhaltsam.
Warum „unaufhaltsam“?
Im Ringen um den Schutz der dünnen, verwundbaren Hülle unseres Planeten, die uns Menschen und alle anderen Lebewesen beherbergt, ist eine unbeugsame Haltung erforderlich. Ein unablässiges Auflehnen gegen den Druck, sich in das vermeintlich Unabänderliche zu fügen und den Kopf in den Sand zu stecken. Denn auch wenn schon vieles verloren ist, können und dürfen wir nicht alles verloren geben. Aufgeben ist keine Option, wenn es ums Ganze geht.
„Wild und unaufhaltsam“ steht für die unauflösliche Verflechtung des Politischen (wie wir unsere Zivilisation gestalten) mit natürlichen Prozessen und Gleichgewichten. Wir können uns in kein apolitisches Naturidyll flüchten und uns auf diesem Weg um die heißen gesellschaftlichen Streitfragen von Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit herummogeln.
Zugleich brauchen wir aber eine neue, vertiefte und veränderte Beziehung zur Erde und ihren Lebewesen. Nur so können wir andere Vorstellungen von Wohlstand und gutem Leben zu entwickeln als das, was die auf stetige Expansion getrimmte Spätmoderne im Angebot hat. Und um den unvermeidlichen, gravierenden Umbruch durchzustehen, der längst schon im Gange ist. Ich bin mehr als nur ein bisschen beunruhigt darüber, dass meine Kirche sich dieser Fragen zwar hier und da auch annimmt, aber mit so wenig Dringlichkeit und Leidenschaft. Die Sorge, nach außen und innen als zu radikal zu gelten, ist oft größer als die Sorge über das massive Leid von Mensch, Tier und Ökosystemen.
Als einzelne Akteure sind wir alles andere als unaufhaltsam. Aber wir entkommen den krisenhaften Folgen unserer Lebensweise ja nicht dadurch, dass wir sie ignorieren oder verdrängen. Das Unaufhaltsame kommt nicht aus mir selbst, und es ist größer als ich selbst. Gott allein ist unaufhaltsam – und alle, die mit ihm unter einer Decke stecken. Es ist eine echte Herausforderung, dafür passende Worte zu finden. Aber die Männer, die die Welt verbrennen, werden nicht das letzte Wort haben. In Zeiten von Glyphosat und anderer tödlicher Formen von „Pflanzenschutz“ müssen wir vielleicht die biblischen Wachstumsgleichnisse zugunsten des vermeintlichen „Unkrauts“ neu erzählen.
Warum jetzt?
Weil die Hiobsbotschaften nicht abreißen: Vor vier Wochen war der weltweit heißeste Tag, der jemals gemessen wurde. Es nahm nur kaum jemand zur Kenntnis, weil bei uns die Temperaturen gerade gefühlt „normal“ waren (die Messungen sagten freilich, dass in diesem Jahr jeder Monat weit über dem Mittel der Jahre 1960-1990 lag, als der Treibhauseffekt noch nicht so spürbar ins Gewicht fiel).
Letzte Woche berichtete taz, dass es eine Hitzewelle in der Antarktis gibt: Für die Jahreszeit (es ist dort Winter) ist es derzeit 30 Grad zu warm. Das hat Auswirkungen auf das Meereis, das unter anderem den „Doomsday-Gletscher“ in der Westantarktis noch an Ort und Stelle hält. Rutscht er ab, steigt der Meeresspiegel um mehrere Meter an. Statt ehrfürchtig und problembewusst (wenn schon nicht schuldbewusst) Abstand zu halten, bietet unsere Tourismusindustrie auch Kreuzfahrten in das schwer gestresste Ökosystem an. Statt „Tanz auf dem Vulkan“ ist nun Tanz auf dem Eisberg im Angebot für Menschen, die schon alles gesehen haben, aber nichts zu schätzen wissen.
Und der Guardian beschrieb fast gleichzeitig, wie die Klimarekorde weltweit im Rekordtempo purzeln: 15 Länder berichten von neuen Höchstwerten im laufenden Jahr, im mehr als zehn Ländern stiegen 2024 die Temperaturen über lebensfeindliche 50 Grad. Dazu passend: Das Mittelmeer war noch nie so warm wie letzte Woche und die AMOC, besser bekannt als Golfstrom, könnte schon im nächsten Jahrzehnt zusammenbrechen.
Der Krieg in der Ukraine verdrängt an den meisten Tagen solche Nachrichten in die zweite Reihe. Es ist allerdings ein Krieg, der nur dadurch möglich wurde, dass wir aus unserer fatalen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas nicht rechtzeitig aussteigen wollten und damit dem Aggressor erstens die Kriegskasse prall gefüllt und ihm zweitens Grund zur Annahme gegeben haben, dass wir Deutschen aufgrund dieses Dilemmas den überfallenen Ukrainern bestenfalls halbherzig beispringen würden, wenn es ernst wird. An anderen Tagen ist es der Wahlkampf in den USA, wo Donald Trump mit Geld der Öl- und Kohlelobby seit Jahren lügt und hetzt.
Wie weiter?
In den letzten Jahren hat mich mehr als alles andere die Frage beschäftigt, wie wir mit der Klimakatastrophe umgehen, die Tag für Tag weiter fortschreitet. Oft tut sie das schleichend, das gehört zur Natur der Sache, wenn wir von Klima sprechen, aber dann auch urplötzlich akut und massiv.
Mich gegen Selbstbetrug und Lethargie zu stemmen, das ist auch eine spirituelle Aufgabe. Ich habe mich in der Bibel umgeschaut nach einer Theologie der Erdverbundenheit und Ermächtigung und nach den Erfahrungsschätzen christlicher Spiritualität gefragt, die uns jetzt weiterhelfen können im zähen Ringen um Veränderung zum Guten. Oder wie Jem Bendell es so schön formuliert:
„Doing what’s right with what’s left“.
Ich werde ab jetzt (mit gelegentlichen Pausen) jede Woche eine Etappe dieser Entdeckungsreise posten. Und ich freue mich über Reaktionen, Kommentare und Austausch zu diesen Themen. Nach und nach werde ich die Blogfunktionen und auch die Links erweitern, aber jetzt möchte ich einfach mal anfangen.
Damit auch die größeren Zusammenhänge sichtbar werden können, die sich nicht auf ein paar Seiten oder in einem einzelnen Post abhandeln lassen, habe ich diese Website ins Leben gerufen. Aber anders als auf meinem Blog peregrinatio geht es hier nur um diese eine Frage:
Wo und wie wirkt Gott in Klimakrise und multiplen Zeitenwenden – und wie werden wir zu vitalem Unkraut, das der Klimakrise und anderen Gefahren trotzt?
3 Kommentare
Berti
Hallo Peter,
tolle Idee und super umgesetzt.
Viel Erfolg
Berti
Peter Aschoff
Danke, Berti! Da macht das weitere Schreiben gleich noch mehr Spaß!
Daniel Hufeisen
Das gilt gut, wichtig und vielversprechend!