Theologie der Ermächtigung

Gefährliche Erinnerungen: Das Exodus-Muster

Die Verfasser des Danielbuchs hatten eine Art Sehhilfe für ihre bemerkenswerte Analyse der damaligen Weltpolitik: Die jüdischen Schriften frühere Generationen. In den Geschichten, die Israel über Gott und die Welt erzählte, taucht das Thema Macht, Unterdrückung und Freiheit in ständig  neuen Formen auf. Und anders als in den religiösen Schriften der Nachbarvölker tauchte Gott in diesen Geschichten zuverlässig auf der Seite der Underdogs auf.  

Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Bestseller „Homo Deus“ das, was wir hier „Mächte“ nennen, als etwas, das zwischen objektiven Gegenständen und subjektiven Bewusstseinszuständen angesiedelt ist, also weder der Welt der Dinge angehört noch der Welt der bewussten Wesen: Konzepte, Symbole, Sprache, Institutionen, Weltbilder, Geschichten entstehen im Miteinander von Menschen, sie prägen und beschränken sie aber auch. Es ist zum Beispiel gefährlich, ein Stück Stoff mit blau-weiß-rotem Muster öffentlich zu verbrennen. Je nachdem, wie das Muster genau aussah, könnten Amerikaner, Briten, Niederländer, Franzosen oder Kroaten plötzlich sehr starke Gefühle an den Tag legen. So ist das, wenn jemand ihre Flagge abfackelt oder während der Nationalhymne (das wäre dann ein akustisches Muster) Buhrufe anstimmt.

Nationen sind nichts Objektives, sie lassen sich nicht genetisch definieren, sondern sie sind im Wesentlichen die Geschichten, die sie über sich erzählen (und das, was sie dabei verschweigen). Menschen haben sie geschaffen, sie bestehen aus Menschen, aber sie diktieren auch das Verhalten der Menschen, indem sie zum Beispiel Loyalität erzwingen und Abtrünnige strafen. Wer sie verändern möchte, muss ihre Geschichte neu erzählen. Die berüchtigte „Dolchstoßlegende“ hat nach dem ersten Weltkrieg den Nationalsozialismus begünstigt, heute versuchen Rechte mit neuen Legenden und Verschwörungsmythen zu punkten, um Deutschland wieder auf den Weg der Zerstörung zu schicken. Auf der anderen Seite versuchen wir gerade, die Geschichte eines friedlichen, humanen Europas und einer immer tieferen Zusammenarbeit seiner Bürger überzeugend und wahrhaftig zu erzählen. 

Eine ganz besondere Geschichte erzählt das Volk Israel. Es ist die Geschichte einer unerwarteten Befreiung aus Unterdrückung, Ausbeutung und Not. Der Demontage einer Dynastie, die von sich behauptete, göttlichen Ursprungs zu sein und daher ewig herrschen zu können – vor allem über unterlegene Nomadenstämme und kleine Nachbarvölker. Sie beginnt mit einem brennenden Dornbusch in der Wüste, aus dem Gott spricht:

„Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!“ (Exodus 3,7-8) 

Ägypten hatte den Israeliten Zuflucht vor einer Hungersnot gewährt. Dort wurden sie zwar zahlreich, aber zugleich mutlos, kraftlos und phantasielos. Kein Wunder: Die Hebräer litten unter brutaler Kontrolle und staatlicher Zwangsarbeit und es schien keine echte Alternative in Sicht zu sein. Die Aufgabe für Mose ist damit eine doppelte: Das Unrecht erstens beim Namen zu nennen und zweitens verschüttete Kräfte freizusetzen und Menschen zu mobilisieren. Für die ersehnte Freiheit gab es keine andere Garantie als das bloße Wort jenes unsichtbaren, namenlosen Gottes, der urplötzlich auftaucht und sich dann wieder entzieht. Welch radikaler Gegensatz zur geordneten Götterwelt Ägyptens, in der alle eine feste Adresse haben und in geregelten Verhältnissen leben!

Die äußere Seite der Handlung ist weithin bekannt: Mose fordert den Pharao auf, die Hebräer freizulassen. Der weigert sich, es gibt ein längeres Ringen, in dessen Verlauf Israels Gott zehn Plagen über den Pharao und dessen Volk hereinbrechen lässt. Die letzte – der Tod des männlichen Erstgeborenen – entspricht dem, was der Pharao den Hebräern angetan hatte. Der Widerstand ist damit gebrochen, der Pharao lenkt ein, die Hebräer dürfen ziehen. Er bereut die Grenzöffnung zwar noch und schickt seine Truppen hinterher, um den Auszug der Hebräer zu stoppen. Allerdings ertrinken die Verfolger im Meer, das sich zuvor für Mose und seine Leute geteilt hatte, nun aber plötzlich zurückschwappt.

Der Exodus ist aber auch die Geschichte einer gewaltigen inneren Transformation: Am Anfang stöhnen die Hebräer. Es ist eine unartikulierte Klage, die sich an keinen bestimmten Adressaten richtet, auch nicht an Gott. Dennoch kommt sie genau dort an. Aber sowohl Mose als auch das Volk muss erst lernen, diesen fremden Gott aus dem Niemandsland zu vertrauen. Während eine Verhandlungsrunde nach der anderen scheitert und eine Plagenwelle nach der nächsten das Land überrollt, hoffen die Hebräer immer weniger auf die Einsicht oder den Großmut des sturen Despoten. Der nämlich erweist sich zusehends als machtlos. Die Exodus-Erzählung lässt sich viel Zeit, zu beschreiben, wie diese Spannung sich allmählich aufbaut. Zu Beginn verschärft der Pharao erst einmal in gewohnter Manier den Druck auf die aufmüpfigen Israeliten. Die ersten beiden Plagen, die auf den erneuten Protest des Mose folgen, können seine Zauberer auch noch imitieren. Das Imperium scheint von keinerlei Selbstzweifeln angefressen – keine Überraschung, wie Exodus 8,11 verrät: „Als der Pharao sah, dass die Not vorbei war, verschloss er sein Herz wieder und hörte nicht auf sie. So hatte es der Herr vorausgesagt.“ Wie so viele Diktatoren nach ihm will er die Krisen seines Systems einfach aussitzen. Und nimmt weiterhin alle möglichen „Kollateralschäden“ dafür in Kauf. 

Mit der dritten Plage – Stechmücken – beginnt sich das Blatt allmählich zu wenden. Als erstes registrieren die Wahrsager, dass ihnen das Problem über den Kopf wächst, und folgern: „Das ist der Finger Gottes“ (8,15). Die vierte Plage – Ungeziefer – bringt dann auch den Pharao dazu, ein taktisches Zugeständnis zu machen. Es bedarf jedoch drei weiterer Machterweise (einer Tierseuche, epidemischer Hautkrankheiten und schweren Hagelschlags), um dem verstockten Despoten seine Ohnmacht vor Augen zu führen. Vorübergehend – denn kaum lässt das Unwetter nach, ist wieder alles vergessen. Die Berater des Pharao bemerken allmählich den schleichenden Realitätsverlust ihres Oberen (10,7): „Wie lange soll uns dieser Mann noch Unglück bringen? Lass die Leute ziehen, damit sie Jahwe, ihren Gott, verehren können. Merkst du denn noch immer nicht, dass Ägypten zugrunde geht?“ Die Illusion der Unverwundbarkeit ist dahin, bis hinein in den königlichen Palast hat sich die Sorge vor Untergang und Tod breit gemacht.

Noch viel entscheidender ist jedoch, dass die Anführer Israels, die anfangs noch an den Pharao appelliert hatten, schon seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihm erwarten. Er hat sich nicht nur als taub gegenüber ihren Schmerzen und Klagen erwiesen, sondern auch als unfähig, auf die schmerzhaften Fingerzeige Jahwes zu reagieren. Es folgen zwei weitere Plagen (Heuschrecken und Dunkelheit) und dann die letzte Steigerung, als überall in dem Land, das alle männlichen Nachkommen Israels unmittelbar nach der Geburt töten ließ, die Erstgeborenen sterben. Das „große Wehgeschrei“ erhebt sich nun in den Häusern der Unterdrücker, die kein Ohr für die Klage ihrer Nachbarn und kein Mitgefühl für deren Leid gehabt hatten. Es ist der kraft- und hilflose Aufschrei des Imperiums, dessen Götter versagt hatten und bei denen auch jetzt kein Trost und Halt zu finden ist. Denn die Götter ergreifen nicht etwa Partei für Menschen, denen Unrecht geschieht, sie lassen alles beim Alten.

Das Evangelium des Mose – und der Begriff ist hier durchaus angemessen – lautet: „Gott ist für uns.“ Die mosaische Revolution beendet das Kapitel Ägypten – vorläufig jedenfalls – am jenseitigen Ufer des Schilfmeers mit einem großen Lobgesang auf diesen leidenschaftlichen Gott der Geschichte, der zugunsten der Schwachen Partei ergreift. Machtlose Menschen singen nicht mehr. Der weite Weg in die Freiheit ist steinig und voller Gefahren, und doch überlebt das kühne Experiment einer alternativen und weitgehend herrschaftsfreien Gesellschaft. Ihre Umrisse finden wir in den Texten, die den Bund zwischen Israel und seinem Gott beschreiben. Dessen Ordnungen unterbinden viele Formen von Ausbeutung und Unterwerfung, die andernorts traurige Normalität waren.

Das mosaische Bundesrecht stellt eine Art sozialökonomische Charta dar. Es wird zum Ausgangspunkt einer Traditionslinie, die sich durch die gesamte hebräische Bibel zieht. Sie bildet einen Gegenpol zu den königlich-priesterlichen Traditionen, denen es weniger um Machtkritik ging, sondern um den Machterhalt. 

Israels Propheten klagen das alte Bundesrecht gegen die Könige vehement ein, als in Israel und Juda eine Feudalisierung nach dem Vorbild der Nachbarvölker einsetzt, die Reiche reicher und Arme ärmer macht. Sie stellen schließlich das Scheitern des Bundes mit Gott fest und kündigen das Ende des Königtums an. Und als der Untergang kommt, als Jerusalem und der Tempel zerstört und die Menschen deportiert werden, beginnen sie überraschenderweise von einem neuen Exodus zu reden, der dem schwer gebeutelten Gottesvolk (und mit ihm der ganzen Welt) neues Leben bringt. Der Theologe Johann Baptist Metz bezeichnet diese Geschichten als „gefährliche Erinnerungen“. Wo sie wach werden, ist es nicht mehr möglich, Glaube als Weg zum kleinen, rein privaten Glück zu leben und gegenüber dem Elend im Rest der Welt gleichgültig zu bleiben.

Auch Johannes der Täufer, der Wegbereiter Jesu in den Evangelien, aktiviert das Exodus-Muster. Er lebt in der Wüste, aus der Israel ins gelobte Land gekommen war. Er tauft am Jordan nahe der Oase Jericho, wo sich das Schilfmeerwunder für Israel wiederholte und das Volk trockenen Fußes durch den Fluss gezogen war. Er kritisiert die Reichen und Mächtigen scharf. Er ruft das Volk zurück zum Bundesrecht, das Solidarität und Teilen über Privateigentum stellt, und er spricht davon, dass Gottes Herrschaft anbricht.

Der Evangelist Matthäus wird Jesus später als den neuen Mose portraitieren, der den Weg seines Volkes nachvollzieht: Beginnend mit der Geburt unter einem kindermordenden Herrscher, der Flucht (ironischerweise nach Ägypten) und Rückkehr in die Heimat und der eben schon erwähnten Taufe. Es folgt ein neues Gesetz, das auf einem Berg in Kraft gesetzt wird und das inhaltlich an die egalitäre Ordnung des mosaischen Bundes anknüpft, die unter der armen Landbevölkerung Galiläas noch hoch im Kurs stand. Das alles gipfelt in der Feier des Passafestes, in der Jesus seinen Tod mit einem neuen Exodus verbindet, und ganz am Ende lesen wir vom Abschied von seinen Nachfolgern auf einem Berg.

Welche Kraft das Exodus-Muster bis in die heutige Zeit hinein entfaltet, das zeigt Martin Luther Kings letzte Ansprache vom 3. April 1968, dem Vorabend seiner Ermordung. Er ist sich der Gefahr bewusst, in der er schwebt, aber er blickt trotz der äußeren Ungewissheit frei von Angst und Sorgen in die Zukunft:

„Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“

(Foto von Simon Berger auf Unsplash)

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