Theologie der Ermächtigung

Der andere Anfang: Warum die Welt nicht bleiben muss, wie sie ist

Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.
(Georg Christoph Lichtenberg, 1742-1799, deutscher Physiker)

Mächte und Gewalten erwecken – damals wie heute – stets den Eindruck, sie seien schon immer dagewesen; ein unverrückbarer Teil unserer Wirklichkeit, also auch gar nicht wegzudenken aus der Welt. Israel hingegen war zu der Überzeugung gelangt, dass die räuberischen Imperien eher Parasiten gleichen. Sie leben davon, dass Menschen sich blenden und dazu verführen lassen, ihnen Gefolgschaft zu leisten und Lebenskraft zu opfern. Mit dem wahren, einen Gott des Friedens und der Gerechtigkeit konnten sie sich nicht messen. Priester und Propheten setzten alles daran, den Mächten ihren Nimbus ewiger Übermacht zu nehmen. Dazu knöpften sie sich die Schöpfungsmythen der alten Welt vor: Geschichten, die vordergründig von einer fernen Vergangenheit handeln, in Wirklichkeit aber erklären, wie die Welt ist, wie sie sein soll, und warum eine andere Welt gar nicht denkbar ist.

Die biblische Urgeschichte ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern im Alten Orient, bei einem kleinen Volk, das mit schöner Regelmäßigkeit von den übermächtigen Großreichen im Norden und Süden drangsaliert wurde. In diesen Großreichen wurde die Ordnung der Welt durch die Androhung von Gewalt erreicht. Religion und Politik waren dabei keineswegs getrennte Sphären, sondern zwei Seiten der einen Pyramide: Die Götter waren ins Himmlische gewendete Bilder des königlichen Hofstaats (Intrigen eingeschlossen), der irdische König galt als „Sohn“ und menschlicher Repräsentant des obersten Gottes. Göttliche und menschliche Ordnung waren identisch und jede Rebellion gegen die Willkür dieser Halbgötter war zugleich auch eine Kriegserklärung an die Götter, die unnachsichtig geahndet wurde. Religion diente dazu, das politische System zu legitimieren und der Angst vor der Rache des Königs auch noch die Angst vor der Missgunst der Götter hinzuzufügen.

Und so ist es vor allem eine Geschichte der Gewalt, die uns die antiken Mythen erzählen. Bei den Babyloniern erzählte man davon, wie Marduk, der Gott des Frühlings, die Göttermutter Tiamat tötete, die die Gestalt eines Drachen hatte. Aus der einen Hälfte von Tiamats Leichnam wird der Himmel, aus der anderen die Erde geschaffen. Die Schöpfung ist also die Folge eines himmlischen Gewaltaktes, und ganz analog kann auch das altorientalische Großreich nur durch Gewalt gegen seine inneren und äußeren Feinde überleben. In diesen Gewalttaten erschafft es sich selbst immer wieder neu. Die Alternative freilich wäre noch mehr Blutvergießen, so wird suggeriert. Denn ein schwacher König und ein schwaches Reich wird unweigerlich zur Beute der gewalttätigen Nachbarn, die wiederum nur durch Gewalt in Schach gehalten werden können.

Marduk erschafft aus dem Blut des Gottes Xingu die Menschen. Die Welt und ganz besonders der Mensch ist ein Produkt der Gewalt. Blutvergießen an den Altären wie auch auf auf den Schlachtfeldern ist nötig, um die Ordnung der Welt zu gewährleisten. Wer sich dieser Gewalt unterwirft, hat gute Chancen auf ein langes Leben. Wer sich ihr in den Weg stellt, hat sein Leben womöglich verwirkt. Wohin das führte, das zeigen die Reliefs auf den assyrischen, ägyptischen und babylonischen Monumenten aus dieser Zeit. Die Eskalationsstufen für benachbarte Völker waren: Tributpflicht und Vasallentum, Deportation, Versklavung oder Tod. Und wie um zu zeigen, dass diese Ordnung eine ewige war, wurden die Götter mit den Sternen am Himmel identifiziert, die man Nacht für Nacht in unerbittlicher, erhabener Regelmäßigkeit ihre Kreise ziehen sah. 

Wenn nun im Schatten dieser Großreiche die Hebräer – ein Volk ehemaliger und von den sesshaften Kulturvölkern verachteter Nomaden, ein Haufen aus Ägypten entkommener Sklaven – die Geschichte von der Erschaffung der Welt ganz anders erzählen, dann lässt das aufhorchen: Denn hier findet die Schöpfung nicht auf dem Schlachtfeld statt, sondern in einem Garten, über den der eine, unsichtbare und ungeschaffene Schöpfergott zuvor wie ein Handwerker die Sterne wie Lampen ans Firmament gehängt hat. Der Mensch wird nicht aus Lehm und Blut, sondern aus Staub und Geist gebildet; und er wird Gottes Gegenüber in friedlicher Kooperation und Fürsorge, aus der Sprache und Kultur entstehen. 

Weder ein Kampf der Geschlechter, in dem sich „männliche“ Gewalt gegen „weibliches“ Chaos durchsetzt, findet hier statt. Geschlechtlichkeit und die Polarität von Mann und Frau bleibt vielmehr etwas rein Menschliches. Es gibt auch keinen tödlichen Kampf um Macht und spärlich vorhandene Reichtümer. Die Herrschaft von Menschen über andere Menschen, die Überlegenheit des einen Geschlechts über das andere, der Einsatz von Gewalt, die Degradierung von Mensch und Natur zum Objekt der Manipulation und Willkür – all das lässt sich mit dieser Geschichte nicht rechtfertigen. Jeder Mensch, nicht nur der König, ist Gottes Ebenbild, das sichtbare Zeichen seiner Zuwendung zu dieser Welt. Walter Klaiber merkt an: „Nach dem Enuma Elisch wurden die Menschen geschaffen, um die niederen Götter von der Arbeit für die großen Götter zu entlasten. Eine Würde oder eine Gottesbeziehung … kommt den Menschen nicht zu.“ Als Mensch bin ich nach biblischer Auffassung also weder Arbeitstier noch Konsument, nicht primär Untertan oder gar Kanonenfutter, sondern geliebtes Gegenüber. 

Zugleich lernen wir: Im Herzen aller Dinge verbirgt sich eine von Gott ausgehende Ur-Harmonie und Ur-Verbundenheit, die jeder Entstellung und Zerstörung vorausgeht. Der Engel mit dem Flammenschwert, der den verschlossenen und verborgenen Garten Eden bewacht, schützt dieses friedliche Refugium vor unbefugtem Zugriff. Als ein Inbegriff menschlicher Sehnsucht nach Frieden, nach einem Zustand des Ganzseins und des Heils, wird der Garten Eden eigentlich schon hier zur Verheißung, dass ein anderes Leben auf dieser Erde möglich ist. Die Exilspropheten und die Bergpredigt werden später wieder an dieses Geheimnis anknüpfen und sagen, dass Gott uns durch seinen Geist auf diesen verlorenen Urgrund wieder zurückführt und einen radikal neuen Anfang möglich macht. Wenn Jesus davon spricht, dass der Himmel gerade dabei ist, zu den Menschen zu kommen, dann hat das auch diese paradiesischen Obertöne.

Leider haben manche unserer theologischen Traditionen sich zu sehr auf die Defizite konzentriert und über der Ur- oder Erbsünde das „Erbheil“ vernachlässigt. Der Mystiker Thomas Merton hat für dieses „verborgene Ganzsein“, wie er es nannte, eine sehr schöne Beschreibung gefunden: 

„Im Zentrum unseres Wesens gibt es einen Punkt des Nichts, der unberührt ist von Sünde und Illusion, einen Punkt reiner Wahrheit, einen Punkt oder Funken, der Gott völlig gehört, über den wir nie verfügen, von her dem Gott unser Leben anlegt, der unzugänglich ist für die Phantasien unseres Verstandes oder die Brutalitäten unseres eigenen Willens. Dieser kleine Punkt des Nichts und der absoluten Armut ist die reine Herrlichkeit Gottes in uns. Es ist sozusagen sein Name, der in uns geschrieben steht, als unsere Armut, als unsere Dürftigkeit, als unsere Abhängigkeit, als unsere Sohnschaft. Er ist wie ein reiner Diamant, der funkelt im unsichtbaren Licht des Himmels. Er ist in jedem, und könnten wir ihn sehen, dann könnten wir die Milliarden Lichtpunkte zusammenkommen sehen im Angesicht und Strahlen einer Sonne, die jegliche Dunkelheit und Grausamkeit des Lebens völlig verschwinden ließe.“

Die Urgeschichte widerspricht darüber hinaus auch einer Vergöttlichung der Natur. Der von den gnadenlosen Gesetzen der Physik determinierte Lauf der Gestirne lässt sich nicht heranziehen, vermeintlich ewige Mechanismen und Notwendigkeiten in der Weltgeschichte zu begründen: Das Rad der Geschichte etwa, das keinen sozialen Fortschritt kennt und für das der einzelne Mensch keine Bedeutung hat, allenfalls die Erhaltung der Art oder der Nation. Ebensowenig gilt das Recht des Stärkeren und das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden. Krieg und Gewalt gehören für Israel nicht zur Grundstruktur der Schöpfung. Wenn jedes Menschenkind ein Bild Gottes ist, dann ist es ein Sakrileg, es auszubeuten, im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ihm die Luft zum Atmen zu vergiften, den Boden unter seinen Füßen austrocknen oder im Meer versinken zu lassen.

Angesichts der globalen Klimakrise ist das wichtig. Die biblischen Schöpfungserzählungen beschreiben das Verhältnis zwischen Gott und Geschöpfen als ein friedliches und gewaltfreies. Menschen und Landtiere werden zusammen am sechsten Tag erschaffen. Die Tiere bekommen das grüne Kraut als Nahrung zugewiesen, die Menschen samentragende Pflanzen (vgl. Genesis 1,29-30). Wenn wir heute also über die Verringerung des Fleischkonsums nachdenken, können wir an diese Vorstellungen anknüpfen. Und uns darin erinnern: Im Garten Eden ist der Mensch Gottes Treuhänder – eine Kombination aus Gärtner und Wildhüter. Das ist kein Freibrief zu jener Unterwerfung und Ausbeutung der Natur, mit der wir alle groß geworden sind.

Auch die neuere Evolutionsforschung stellt dem Prinzip der Konkurrenz und Auslese inzwischen andere Faktoren an die Seite und betont, wie wichtig die Koexistenz der unterschiedlichen Lebewesen ist. Sie erforscht die Kooperation in Gruppen und die dazu erforderliche Kommunikation. Heute wissen wir zum Beispiel, dass Bäume über Pilzgeflechte miteinander kommunizieren und ihren Nachwuchs über die Wurzeln mit Nährstoffen versorgen. Der fürsorgliche Gott hat eine fürsorgliche Welt erschaffen. Es wäre daher klug und sinnvoll, sich fürsorglich zu verhalten.

Leider ist die Perversion von Macht und die daraus resultierende Zerstörung eine Wirklichkeit, mit der wir leben. Auch das sieht das kleine Israel ganz realistisch: Die Menschen unterstellen Gott misstrauisch, sein Herrschaftswissen nicht mit ihnen teilen zu wollen, sie glauben, mit ihm konkurrieren zu müssen, und wie in einer Kettenreaktion zerfällt das ganze Gefüge: Die Menschen entfremden sich von Gott, sie schieben einander die Schuld zu für das Zerwürfnis, Neid und Gewalt zerstören in der Folge selbst das Verhältnis zum eigenen Bruder. Aber all das ist ein menschliches Problem, das nicht an den Götterhimmel zurückprojiziert wird. Es kann daher auch niemals als unvermeidlich ausgegeben werden. In seiner großen Distanz zur Gewalt unterscheidet sich der Gott Israels von den imperialen Götzen.

Dieser barmherzige Gott, der schon Kain, den ersten Mörder der Geschichte, vor der Rache seiner Mitmenschen schützt, begrenzt daraufhin menschliche Macht immer wieder, um die Zerstörung nicht ausufern zu lassen. Der Gedanke, dass der nahe und erfahrbare Gott die Welt erhält und die Geschichte mit all ihren Wirren barmherzig begleitet, ist das eigentliche Thema der biblischen Urgeschichte, weil es Israels Gegenwart und Zukunft in ein neues, hoffnungsfrohes Licht tauchte. 

Ganz deutlich wird dabei: Immer wenn Menschen gewaltsam miteinander umgehen, einander Schaden zufügen, hören sie auf, Gottes Ebenbilder und Treuhänder seiner Schöpfung zu sein. Kain lebt weiter und wird der Gründer der ersten Stadt – der Ahnherr menschlicher Zivilisation, in der Konkurrenz und Aggression immer wieder gebändigt werden müssen. 

Deutlicher kann man nicht mehr sagen, dass Gewalt und alle Macht, die andere unterdrückt und unterwirft, nicht göttlichen Ursprungs sind. Zugleich wird deutlich, dass alle Menschen in diese Verstrickungen mit unheilvoller Macht hineingeboren werden und sich oft genug auf beiden Seiten des Täter/Opfer-Verhältnisses wiederfinden. Wenn der uralte Begriff der „Erbsünde“ heute noch einen Sinn hat, dann vielleicht diesen, dass er uns die Augen öffnet für unsere eigenen Anteile am unnötigen Leid dieser Welt.  

(Foto: Jakob Owens auf unsplash.com)

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