Theologie der Ermächtigung

Ruhestörung: Wenn Weinen wichtiger ist als Schimpfen

„Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“

(Theodor W. Adorno)

Wenn man sich gegenwärtig in der Welt umsieht, kann man an das alte biblische Konzept der „Verstockung“ denken. Vielleicht muss man sogar. Verstockung, das heißt: Jemand erzwingt den eigenen Untergang. Es fehlt nicht an Warnungen, aber sie kommen nicht an. Die Möglichkeit eines Kurswechsels war da, aber sie wurde nicht genutzt. Der Pharao aus der Exodustradition wird so veränderungsresistent beschrieben. Die Könige von Israel und Juda, deren Reiche den Assyern und Babyloniern in die Hände fallen. Paulus bezieht den Begriff dann auf sein eigenes jüdisches Volk, das den prophetischen Ruf Jesu von Nazareth zur Umkehr ignoriert. Kurz darauf wird Jerusalem erneut zerstört. Der Tempel ist endgültig verloren.

Im Blick auf einzelne Menschen kennen wir das Phänomen schon lange. Die einen richten ihre Gesundheit zu Grunde, andere zerstören ihre Familien, Freundschaften und Nachbarschaft, wieder andere die Karriere. Wider besseres Wissen, trotz aller Warnungen, blind für die Folgen des eigenen Tuns. Manchmal erscheint uns das tragisch, wenn auch nicht im klassischen Sinn. Die Helden der antiken Tragödien scheitern daran, dass sie jenes Verhängnis, dem sie unbedingt entgehen wollen, durch ihr vorbeugendes Tun erst heraufbeschwören. Verstocktsein hat, anders als echte Tragik, nichts mit Größe und Edelmut zu tun. Sondern mit Hochmut, Kleingeisterei und fehlendem Augenmaß, die irgendwann ein solches Ausmaß annehmen, dass der einzelne oder die Gruppe sich nicht mehr davon lösen kann. Die Psycho-Logik der AfD, die zwischen Weinerlichkeit und Gehässigkeit oszilliert, hat sich in den Gehirnen der Parteiführung und Mitglieder anscheinend fest etabliert. Erst wollten sie nicht anders, jetzt können sie nicht mehr. Der Brexit ist die englische, der Verbrenner-Kult die deutsche und der Waffenwahn in den Staaten ein Aspekt der amerikanischen Version dieses Phänomens. Es ist aber auch – und das ist neu – die Phase der multiplen Verstockungen angebrochen – mit globalen Auswirkungen.

Verstockung ist kein psychologischer, sondern ein theologischer Begriff. Gottes Anteil daran ist der, dass er irgendwann die Türe schließt, die einen Ausstieg aus dem Schlamassel möglich macht. Eine fatale Entwicklung wird unumkehrbar. Auch das kennen wir: Aktuell spricht vieles dafür, dass entscheidende „Kippunkte“ des Weltklimas schon überschritten sind. Das katastrophale Ausmaß der drohenden Zerstörung und ihrer Folgen für die Weltbevölkerung über viele Generationen hinweg lässt die Kriege der jüngeren Vergangenheit harmlos erscheinen. Seit Jahrzehnten ist die Gefahr bekannt. Sie wurde heruntergespielt und verdrängt, oder erstickt von der Dauerpropaganda libertärer, rechter Thinktanks gegen Regulierungen aller Art. Immer gab es wichtigere Dinge: Den Primat des Kapitals und dessen Hunger nach kurzfristiger, maximaler Rendite – den „Krieg gegen den Terror“ – die groteske Obsession mit Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlingen aus Afrika oder dem Orient.

Der salomonische Rollback

Inzwischen ist ein kompletter Zivilisationsbruch nicht mehr undenkbar. Wie konnte es so weit kommen? Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Geschichte des alten Israel, sie ist erschreckend aktuell. Um das Jahr 1.000 vor Christus setzte in Israel eine folgenschwere Entwicklung ein, die dem befreiten Volk wieder quasi-ägyptische Verhältnisse bescherte: Mit Saul begann der Übergang zur Monarchie, unter David wurde aus dem kleinen Staat ein Großreich. Mit Salomo begann schließlich der gezielte Ausbau von Wohlstand und Sicherheit, Bürokratie und Hierarchie nach dem Muster der großen Nachbarn. In drei Schritten stellte er die Revolution des Mose auf den Kopf:

Erstens schuf Salomo eine Ökonomie des Überflusses. Es gibt vielleicht keinen effektiveren Weg als Brot und Spiele, um abhängige Untertanen bei Laune zu halten. Bei Salomo war es der Bau von Lagerhäusern und der glanzvolle Königshof in Jerusalem, der Menschen beeindruckte und blendete. Vorbei die Zeiten, in denen Gott das tägliche Brot in Form von Manna schenkte, aber alles Sammeln von Vorräten (und damit auch Reichtümern) verhinderte. 

Zweitens betrieb Salomo eine Politik der Ungleichheit. Er zwang seine Untertanen (allein das Machtgefälle, das der Begriff beschreibt, war schon etwas unerhört Neues in Israel) zum Frondienst für Bauprojekte, die den Rahmen alles Bisherigen sprengten. Auch das hatte Mose strikt verboten, und der Protest der ausgebeuteten Stämme des Nordens führte eine Generation später zum Zerfall des Reiches.

Drittens verband sich beides mit einer Religion der Sesshaftigkeit: Salomo schaffte die Stiftshütte – das „Zelt der Begegnung“ – aus Moses Zeiten ab und ließ den ersten Tempel erbauen. Der nomadische, freie Gott war prunkvoll eingemauert und der König konnte vom unmittelbar angrenzenden Palast nun regeln, wer Zugang erhielt und wer nicht. Gott war nur noch dem Namen nach der gleiche wie zur Zeit des Exodus, der neue Pharao residierte auf dem Zion in Jerusalem, umgeben von den Priestern und beschützt von den Söldnern in seinen Diensten. 

Salomos Nachfolger setzten diese Politik im Wesentlichen fort. Gegen diesen Komplex aus Religion, Politik und Wirtschaft, gegen seine gnadenlosen Herrschaftstrukturen wie seine apathische Spiritualität, liefen die Propheten Sturm – im Namen der Freiheit Gottes und der leidenden Menschen. Nicht um die Verhältnisse ein bisschen zu verbessern, sondern um einen grundlegenden Bewusstseinswandel herbeizuführen, oder, um es mit einem biblischen Begriff zu sagen, eine Veränderung der Herzen. Politische Reformen allein greifen zu kurz und auch der Glaube muss aus seiner Komplizenschaft mit den bestehenden Verhältnissen (und das bedeutet auch: seiner faulen Neutralität) befreit werden, um seine ursprüngliche befreiende Kraft neu zu entfalten. Walter Brueggemann folgert mit einem erhellenden Blick auf unsere Gegenwart:

„Das königliche Bewusstsein mit seinem Programm machbarer Sättigung hat unsere Vorstellung von Menschsein umdefiniert, und zwar für uns alle. Es hat ein subjektives Bewusstsein geschaffen, das sich nur um die eigene Befriedigung dreht. Es hat die Legitimität der Tradition geleugnet, die es uns abverlangt, uns zu erinnern, der Autorität, die von uns eine Antwort erwartet, und der Gemeinschaft, die uns zur Anteilnahme ruft. Es hat die Gegenwart so inthronisiert, dass die verheißene Zukunft […] undenkbar ist.“

Prophetisches Pathos

Die Propheten erinnern an Gottes Freiheit gegenüber diesen vernagelten Welten. Sie legen mit ihren Versen die Sollbruchstellen der gängigen Weltbilder und Denkstrukturen frei, sie kontern die Apathie der herrschenden Götzen mit Gottes Leidenschaft. Sie appellieren an die tieferen Träume und Sehnsüchte, die unter Zerstreuungen verschüttet waren oder aus Kostengründen abgeschrieben wurden – sie stiften heilige Unzufriedenheit und Unruhe. Der Theologe Ronald Marstin schreibt:

„Der klassisch griechischen Anschauung zufolge ist die Welt im Wesentlichen unveränderlich. Die Geschichte ist eine Abfolge von Zyklen, die sich endlos wiederholen. Man kann nichts Neues erwarten. Die Zeit ist unfruchtbar, ihr Vergehen ohne Bedeutung. Nur der Raum hat Bedeutung: Territorium, Boden, Blut […] Priesterliche Religion ist die Religion von Menschen, die an das geheiligte Land gebunden sind, eine Religion, die die Grenzen sanktioniert. Ein Volk vertraut seinem Gott, dass er sein Gebiet beschützt. Im Gegensatz dazu war die jüdische Weltsicht dynamisch, man verstand die Geschichte als kontinuierlichen Entfaltungsprozess, in den Gott mit "mächtigen Taten" eingreift, und die Zeit ist möglichkeitsschwanger. Wichtiger noch als Blutsbande war der geschichtliche Bund mit Gott. Diese Weltsicht feiert man in einer anderen Art von Religion, die man normalerweise "prophetisch" nennt. Prophetische Religion ist die eines Volkes, das nicht an Grund und Boden gebunden ist, ein Volk im Aufbruch, ein Volk, das eine historische Aufgabe vor sich hat – die Aufgabe, Grenzen zu überwinden.“

Die satte und leidenschaftslose Mentalität, die Salomo und der Pharao an den Tag legen, verdrängt die Ahnung, dass nicht alles so bleiben wird, wie es ist, und dass wir auch nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Und so führt der Weg der Propheten über die Klage und die Trauer, wie das Beispiel des Jeremia zeigt:

„Der Prophet schilt und tadelt nicht. Der Prophet verleiht der Furcht vor dem Ende einen öffentlichen Ausdruck, dem Zusammenbruch unserer Eigenmacht, den Barrieren und Hackordnungen, die uns absichern auf Kosten der jeweils anderen und der furchterregenden Praxis, vom Tisch eines hungrigen Bruders oder einer hungrigen Schwester zu essen. … Der Prophet spricht keine Verhaltensprobleme an. Er drängt nicht einmal auf Umkehr. Er hat nur die Hoffnung, dass der Schmerz Gottes die Taubheit der Geschichte durchdringt.“

Jeremia propagiert keine Lösungen, er entlarvt nur den tödlichen Selbstbetrug seiner Generation und trauert – weil sein Volk untergehen wird und weil das niemanden zu kümmern scheint. Sein Schmerz und seine Klage sind der Schmerz und die Klage Gottes. Aber der Untergang ist nicht mehr abzuwenden – auch hier stimmt die Parallele zum Pharao. Und der Bund zwischen Gott und seinem Volk, der sicherstellen sollte, dass sich unter der Nase der Großkönige und Pharaonen eine gelebte Alternative zu selbstzufriedenem Wohlstand, zu selbstgewisser Religion und selbstherrlicher Machtpolitik behauptet, war gescheitert. Je mehr Israels Könige ihren Nachbarn nacheiferten, desto weniger konnte man an Gottes Bundesvolk noch dessen Absichten für diese Welt ablesen. Der Norden des ehemaligen Großreichs war zu Jeremias Zeit schon längst untergegangen, nun setzten sich babylonische Truppen in Bewegung Richtung Jerusalem. Das Experiment war gescheitert, das Ende besiegelt. Nur ein kläglicher Rest blieb übrig.

Die Saat des Neuanfangs

Doch nur wer weinen und trauern kann, ist bereit für einen Neuanfang jenseits der Katastrophe. Jeremias Tränen sind nicht nur Trauer, sondern auch eine Form radikaler Kritik und die Saat eines neuen Anfangs. Propheten als weinende Dichter, die Menschen helfen, sich selbst ungeschminkt die Wahrheit zu sagen und all die Beschwichtigungsformeln wegzulassen, die das Unvermeidliche leugnen, sind eine Zumutung. Doch nur sie eröffnen den Weg zu einer Veränderung, die aus Gottes Leiden an der Welt geboren wird. Die Entsprechung zum biblischen „Rest“, das sind möglicherweise all jene, die gegenwärtig noch trauern können. Diese Fähigkeit zu echter Trauer (im Unterschied zu primitivem Selbstmitleid) ist das letzte Zeichen der Hoffnung. Sie markiert den Ort in der Welt, wo Gott angesichts des Untergangs noch zu finden ist. Und so könnte man fragen, ob nicht manche Künstler (und manche Aktivisten) prophetische Stimmen sind, die unterdrückten Schmerz spürbar machen, und uns Bilder von einer anderen Welt vor Augen führen. Vielleicht wäre es ein Schritt zu einer prophetischen Kirche, ihnen auch dann noch zuzuhören, wenn es weh tut?

Im Moment gilt freilich: Die Deutschen buchen nach wie vor massenhaft Flüge, leisten sich immer noch mehr SUVs, essen ungesund viel Fleisch aus Massentierhaltung und laufen Sturm gegen Windräder in der Nachbarschaft. Ein Teil von uns wird nicht aufhören, jedes Bemühen um Nachhaltigkeit als „linksgrüne“ Verschwörung gegen Volk und Kultur hinzustellen, die Sorge um die Opfer der Erdüberhitzung als Verrat am Vaterland zu verleumden und die erschütternden Berichte des Weltklimarates und der Forscher als Fake News. Das millionenfache Sterben von Mensch und Tieren, von Landschaften und Lebensweisen hat begonnen. Ist das schon Verstockung oder einfach nur Trägheit?

Konstruktive Klage

Anklagen und Polemik, so berechtigt sie sind, verschärfen die drohende Verstockung wohl eher, als dass sie sie aufbrechen könnten. Vielleicht sollten die Kirchen einen Sonntag im Monat der öffentlichen Trauer widmen. Das klingt nach viel, aber es steht ja auch viel auf dem Spiel – so gut wie alles. Wir sind im Augenblick noch zu wenige, um einen Kurswechsel herbeizuführen. Aber wir sind zu viele, um einfach nur zu schweigen. Und billigen Trost oder positives Denken, das keinen Anstoß erregt, haben wir nicht im Angebot.

Der bekannte Soziologe Ulrich Beck hat in seinem posthum erschienenen Buch „Die Metamorphose der Welt“ einen positiven Blick auf die Protestierer und Schwarzmaler geworfen. Er spricht von einem „emanzipatorischen Katastrophismus“ und meint damit, die bedrohlichen Nebenfolgen unserer wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte drängen die Menschheit – ob sie will oder nicht, ob sie Einsicht zeigt oder nicht – zu einer grundlegenden Veränderung von globalem Ausmaß. Die „Weltrisikogesellschaft“ erzwingt die Inklusion der globalen Anderen. Im Streit darüber, im Beklagen der Ungerechtigkeiten, die das Wirtschaftssystem erzeugt hat und die der Klimawandel verschärft, wird die Grundlage für eine zukünftige Ordnung gelegt. Es ist also nicht nur leeres Gerede, im Gegenteil: „Das Beklagen und Kritisieren, dass letztlich nichts geschieht, alles beim Alten bleibt, ist genau die paradoxe Weise, auf die der radikale Horizontwechsel vollzogen, die neuen Fixsterne etabliert werden, die den stolzen Namen ‚Welt‘, ‚Menschheit‘, ‚Planet‘ tragen“, schreibt Beck. Und er fügt hinzu: „Die Litanei des Versagens schafft kosmopolitisierte Handlungsräume für politische Kritik und politischen Aktivismus.“ (90/91)

Wir sollten nicht vorschnell resignieren, wenn unsere Warnungen und Forderungen auf Widerspruch oder Ignoranz treffen und wenn überfällige Reformen ausgebremst werden. Sie bewirken – möglicherweise, wahrscheinlich, wer kann das schon sagen? – ein langfristiges Umdenken. Der Prophet Jesaja erreichte ein Umdenken seiner Landsleute zu seinen Lebzeiten. Der Prophet Jeremia, der mehr als alle anderen trauerte und klagte, wurde verschleppt und starb (möglicherweise gewaltsam), bevor es dazu kam. Trotzdem war er nicht weniger wichtig. Jesus ist ihm in vielem sehr ähnlich.

(Foto von Alex Dukhanov auf Unsplash)

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert